In der Presse #33

Gemeindezentrum
an der Saale

Die Synagogengemeinde Halle
entwickelt ihre Zukunftspläne

Mai 2006

Freitagabend in einem Altbau in der Trothaer Straße: Gutgelaunte, russisch sprechende Menschen drängen sich in eine großräumige, zu Beterstube und Gemeinderaum umfunktionierte Wohnung. Hier lebte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts der Großvater von Karl Sommer - jenes Mannes, der in den letzten Jahren die Geschicke der liberalen Synagogengemeinde Halle geprägt hat.

An den Wänden hat ein russisch-jüdischer Maler in leuchtenden Farben Szenen aus der Tora festgehalten, jeweils alternierend mit einem sorgfältig geschriebenen und großformatig aufgetragenen hebräischen Text. Am vorderen Raumende zündet eine junge Frau die Schabbatkerzen, und einige Männer werfen sich den Tallit über. Aus der Gemeindeküche dringt noch immer fröhliches Stimmengewirr, doch dann zieht feierliche Stille ein. Rabbiner Walter Rothschild, der aus Berlin angereist ist, liest die ersten Psalmen.

Gutbesuchter Schabbes

Mindestens 50 Besucher sind zu diesem Kabbalat Schabbat gekommen, der nebenan aufgebaute Kidduschtisch wird sie später kaum fassen können. Dann wird eng zusammengerückt, die Menschen plaudern bei leichten Speisen, Saft und auch etwas Wodka. Erstaunlich viele Teenager haben sich eingefunden, und sie diskutieren mit Karl Sommer den möglichen Ausbau eines Gebäudes am Hallenser Stadtrand. Einer von Sommers großen Vorteilen ist, dass er Architekt und Praktiker in einem ist. Der heute 68jährige mit dem gepflegten weißen Bart, den lebendigen Augen und einem leicht thüringischen Akzent weiß bestens Bescheid, wie auch regelrechte "Bruchbuden" saniert und wieder nutzbar gemacht werden können. Sein "jüngster Traum" ist der Ausbau eines Gemeindezentrums in der Nähe der Saale, doch für ein bereits fest ins Auge gefasstes leer stehendes Gebäude wurde ihm bisher kein Baudarlehen genehmigt. Und so wie die ansässigen Banken hat sich auch die Stadt Halle, was eine Unterstützung der Synagogengemeinde betrifft, in den letzten Jahren in recht vornehmer Zurückhaltung geübt. Unverarbeitete Berührungsängste?

Noch immer ist das nichtjüdisch-jüdische Verhältnis in Deutschland mehr als ein fragiles Gebilde - erst recht im Osten des Landes. Karl Sommer, der lange Zeit als Architekt und Bauunternehmer in den alten Bundesländern gearbeitet hatte, ist nach der politischen Wende in die Stadt seiner frühen Kindheit zurückgekehrt. Eine jüdische Gemeinde existierte hier nu noch in Form weniger hoch betagter Mitglieder, die es geschafft hatten, den massiven Säkularisierungsdruck im SED-Staat zu überdauern. Mit Sommer kehrten noch andere westdeutschen Juden in ihre einstige Heimat und zurück, und sowohl diese Gruppe als auch die seit 1991 in größerer Zahl nach Halle emigrierenden Juden aus der früheren Sowjetunion verliehen der Gemeinde bald ein neues, völlig verändertes Antlitz. Organisiertes jüdisches Leben gewann wieder Kontur.

Liberale Rückbesinnung

Doch das neue, rasche Wachstum infolge Verstärkung aus "Ost und West" schützte die Gemeinde nicht davor, in den Folgejahren Schauplatz von individuellen Machtkämpfen und Intrigenspielen, von Misswirtschaft und Veruntreuung zu werden. Der Zentralrat schickte zeitweilig Peter Fischer als Krisenmanager, doch auch später zog keine wirkliche Ruhe ein.

Zum traurigen Höhepunkt wurde der Skandal um den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Eli Gampel, den das Landgericht Halle zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung verurteilte (Mitteldeutsche Zeitung vom 9. Mai 2005). Zusätzlich wurde ein organisches Wachstum der Gemeinden noch dadurch verstärkt, dass orthodox orientierte und liberal gesinnte Juden in einen verhärteten Konflikt über das Selbstverständnis der Gemeinde gerieten. Karl Sommer erinnert sich, dass den liberal orientierten Gemeindemitgliedern - zu denen er mit an vorderster Stelle gehörte - bald ihr halachisches Judentum grundsätzlich bestritten wurde. "Wir wurden systematisch ausgegrenzt und schließlich mit juristischen Mitteln von der Mitarbeit in der Gemeinde ausgeschlossen", sagt Sommer im Rückblick.

Fakt ist, dass sich im Juli 1996 rund 30 Hallenser Juden dazu entschlossen, in klarer Rückbesinnung auf die Reformtradition der Hallenser Vorkriegsgemeinde eine eigene "Synagogengemeinde zu Halle" zu gründen. Im Februar 1997 wurde die Synagogengemeinde offiziell ins Vereinsregister der Stadt Halle eingetragen. 1999 ist die Gemeinde dann in die "World Union for Progressive Judaism" und ihren deutschen Ableger, die "Union progressiver Juden in Deutschland", aufgenommen worden. Heute zählt die Gemeinde rund 200 Mitglieder.

Verweigerte Finanzen

Ob sich die Spaltung der Hallenser Gemeinde seinerzeit nicht hätte vermeiden lassen, in einer Situation, da das organisierte Judentum in Deutschland - und erst recht in den neuen Ländern - immer noch auf schwachen Füßen steht? Diese Frage wird Karl Sommer nicht selten gestellt. "Darüber kann man Nachhinein natürlich spekulieren und philosophieren", sagt der Gemeindevorsitzende nachdenklich. "Damals haben wir objektiv keine Chance gesehen. Und die weiterlaufenden Querelen im Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Sachsen Anhalt, wie wir sie ja bis in die jüngste Zeit erlebt haben, die geben unserer Entscheidung eigentlich recht. mit der Gründung unserer Synagogengemeinde hatten wir dagegen die Chance, eine rein inhaltlich orientierte Arbeit zu beginnen. "Die Mitgliedschaft bei der Union progressiver Juden in Deutschland gaben Karl Sommer und seinen Mitstreitern dann auch den nötigen Rückhalt, um auf juristischem Wege den Anspruch auf staatliche Förderung - analog zu den Gemeinden des Zentralrates - erstreiten zu können. So bestätigt vom Magdeburger Oberverwaltungsgericht im November 2004 und endgültig bekräftigt durch das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2005. Dass der Clinch mit einigen Verantwortlichen im Landesverband auch nach Inkrafttreten eines neuen Staatsvertrages noch nicht ausgestanden ist, bewiesen die letzten Wochen. Statt die vereinbarte Monatssumme von rund 11.000 Euro an die Synagogengemeinde auszuzahlen, beließ es der laut neuem Staatsvertrag noch immer für die Verteilung der staatlichen Mittel zuständige Landesverband dabei, ein zartes Sümmchen von 360 Euro bereitzustellen (siehe Interview auf dieser Seite). "Unter solchen Bedingungen können wir natürlich schlecht arbeiten". erklärt Sommer, "davon kann ich nicht einmal Miete und Büro bezahlen. Ich wundere mich sehr, wieso auch die Landesregierung eine derart dreiste Verweigerungshaltung toleriert."

Doppelte Integration

In der Tag muss sich die Hallenser Synagogengemeinde - ähnlich den meisten neu gegründeten oder im letzten Moment noch revitalisierten Gemeinden in Deutschland, einer umfangreichen, doppelten Herausforderung stellen: Zum einen gilt es, viele der osteuropäischen Neuzuwanderer der 90er Jahre - die heute deutschlandweit mehr als 80% aller Gemeindemitglieder ausmachen - nach Jahrzehnten unter kommunistischer Herrschaft schrittweise wieder mit dem traditionellen und religiösen Judentum vertraut zu machen. "Nur macht es keinen Sinn, das mit der Brechstange zu versuchen, es muss ganz allmählich wachsen", sagt Karl Sommer. Die zweite große Herausforderung liegt in lebenspraktischen Unterstützungsleistungen für die Neuankömmlinge. Dies kann durch Sprachkurse, Familienberatung, Übersetzungsleistungen, die Begleitung bei Ämtergängen, aber auch durch Kontaktaufnahme zu hiesigen Unternehmen geschehen - denn Arbeitslosigkeit ist das Problem Nummer eines unter den gleichwohl überdurchschnittlich qualifizierten russischsprachigen Juden. "Wenn die Neuzuwanderer mit ihren Problemen im Alltag allein gelassen werden, dann können wir auch nicht erwarten, dass sie sich für das synagogale Leben begeistern", meint der Vorsitzende.

Fundamente für die Zukunft

Ein besonderes Augenmerk will Karl Sommer in den kommenden Monaten und Jahren auf die Jugendarbeit werfen. "Ein Großteil der jungen Leute wird studieren wollen, keine Frage", so der Vorsitzende. "Aber ein Teil von ihnen wird auch in der Stadt bleiben. Und diejenigen könnten das Fundament für die künftige Gemeinde bilden. Sie hätten selbst einen Gewinn davon, denn sie wüssten dann umso besser, wer sie sind."

Im Moment aber plagen noch die Basisprobleme. So muss die Synagogengemeinde um eine regelmäßige Betreuung durch Rabbiner und Kantoren kämpfen. Auch i der Altenbetreuung wünscht sich Karl Sommer noch mehr Unterstützung, sowohl von Freiwilligen als auch durch Fachkräfte. "Wenn die blockierten, uns seit Jahren zustehenden Fördergelder endlich fließen, wird hier ein großes Aufatmen einsetzen - und wir können dann wenigstens die notwendigsten Betreuungsaufgaben erledigen", schaut der Vorsitzende schon mal ein Stück voraus.

Freitag, 21.30 Uhr: Am Kidduschtisch haben sich die Reihen deutlich gelichtet. Frohgelaunte Jugend bricht ebenso auf wie junge Familien und ein paar ältere Frauen mit Kopftuch. In der Gemeindeküche geht das licht aus. Karl Sommer, noch im Plausch mit einigen engeren Mitarbeitern, hält plötzlich inne und strahlt: "Wir habe so lange für einen Neuanfang gekämpft, und jetzt sehen wir endlich die ersten Früchte."

Axel Fritzsche

Nachtrag: Bei Redaktionsschluss erreichte uns die Nachricht,
dass der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Sachsen Anhalt
in Abstimmung mit dem anhaltinischen Kultusministerium ab Mai
nun zu monatlichen Zahlungen an die Synagogengemeinde Halle
in Höhe von 7.500 Euro bereit sei.

Quelle:
Jüdische Zeitung (Printausgabe) - Mai 2006

 

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