In der Presse #32
"Ohne Ehrenamt
geht gar nichts"
Mai 2006

Interview mit Karl Sommer, Vorsitzender Synagogengemeinde Halle

Herr Sommer, seit ihrer Gründung im Juli 1996 stehen Sie der Synagogengemeinde in Halle vor. Eine liberale Gemeinde, die zur Union progressiver Juden in Deutschland gehört. Ihre Gemeinde besteht zum überwiegenden Teil aus russischsprachigen Zuwanderern. Sind Sie der Meinung, dass das Reformjudentum den Zuwanderern als Strömung innerhalb des religiösen Judentums am nächsten steht?

Ja, davon gehe ich aus. Und hier in Halle selbst hat ja das liberale Judentum eine lange Tradition. Die Hallenser jüdische Gemeinde feierte in den 90er Jahre ihr 300jähriges Bestehen. Sie war eine der ersten jüdischen Gemeinden in Deutschland gewesen, die sich einen liberalen Status gab. Und in dieser Tradition steht auch die Synagogengemeinde.

Viele der Zuwanderer sind noch damit beschäftigt, erst einmal den Sprung in die deutsche Aufnahmegesellschaft zu schaffen, nicht wenige leben von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Damit fallen beträchtliche Steuergelder für die Gemeinde aus. Wie kann die Gemeinde das kompensieren?

Leider gar nicht. Wir leben von der Hand in den Mund, vom Schnorren und vom Borgen. Zwar wurde der neue Staatsvertrag am 20. März vom Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, den Landesverbandsgemeinden und der Synagogengemeinde Halle unterzeichnet, aber schon im April, wenige Tage später, hat der Landesverband seine Verpflichtung, der Synagogengemeinde Halle die Landeszuschussrate auszubezahlen, gebrochen. Statt der ihr zustehenden Summe in Höhe von rund 11.000 Euro wies er der Synagogengemeinde nur 350 Euro an. Übrigens ohne Gründe zu nennen, warum. Damit kann eine jüdische Gemeinde nicht existieren.

Was kann der Gemeindevorstand tun, um den Neumitgliedern bei der Integration in die deutsche Aufnahmegesellschaft zu helfen - notfalls auch mit wenigen finanziellen Ressourcen?

Wir unterbreiten ergänzende Angebote zu den bereits von der Stadt Halle und vom Land Sachsen-Anhalt in reichlichem Maße gebotenen Integrationshilfen. Allerdings sollten und dürfen wir nicht vergessen, dass wir eine Religionsgemeinde sind, die sich vorrangig um die religiösen und seelischen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu kümmern hat. Gleichwohl haben wir Deutschkurse angeboten, deren Besuch die Kommunikation im neuen Umfeld erleichtern soll. Das Wichtigste für eine zufriedenstellende Integration ist allerdings, dass unsere Gemeindemitglieder Arbeit finden, und hier versuchen wir besonders intensiv zu helfen. Denn inmitten von deutschsprachigen Kollegen lernt man die Sprache dann auch am besten, und die Integration wird ein angenehmes Nebenprodukt.

Gibt es Unterstützung für die Synagogengemeinde von Seiten der Stadtverwaltung, den Kirchen, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ...?

Leider haben wir da noch keine Erfahrungen gemacht, praktische Hilfe kam bisher nicht zustande. So wartet die Synagogengemeinde seit Jahren darauf, von der Stadt einen Friedhof oder ein Begräbnisfeld zugewiesen zu bekommen. Aber immer wieder wird dieser so dringende Antrag mit scheinheiligen Argumenten abgewehrt - sowohl der Stadt Halle wie auch von der Landesverwaltung. Die anderen Gesellschaften und Vereine haben wohl mit sich selbst noch zu tun, sie können uns noch nicht zur Seite stehen.

Wirklich bedauerlich ist der bisherige Kontakt mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband gelaufen. Er verweigert der Synagogengemeinde dringend benötigte Sozialarbeiter mit dem Hinweis, dass der Landesverband der jüdischen Gemeinden ja Mitglied bei ihm sei, und wir sollten uns doch an den wenden. Dass wir einem anderen Dachverband angehören, ist dort vielleicht nicht so durchgedrungen. Der Landesverband seinerseits schiebt die Antwort erst einmal um Jahre hinaus und kann dann angeblich nicht helfen, weil wir nicht Mitglied im Zentralrat sind. Ein Circulus vitiosus, unter dem vor allem die Neuzuwanderer zu leiden haben.

Seit Jahren wird die religiöse Betreuung der Synagogengemeinde durch Rabbiner Walter Rothschild sichergestellt, der oft von Berlin kommt und dann hier den Gottesdienst gestaltet. Wie wird er, der eigentlich britische Rabbiner, von den hauptsächlich russischsprachigen Gemeindemitgliedern akzeptiert?

Hervorragend. Unsere Mitglieder verehren und lieben Rabbiner Rothschild. Er pflegt eine unkomplizierte, direkte Art, den Zugang zu den Mitgliedern und Besuchern der Gemeinde zu finden. Auch über manche Sprachbarriere hinweg.

Ab wann werden in der Synagogengemeinde auch Kantor und Sozialarbeiter arbeiten?

Da sind wir schon wieder bei der leidigen Landeszuschussrate. Sobald der Landesverband die uns uns nicht mehr rechtswidrig streitig macht, wollen wir auch einen Kantor und einen Sozialarbeiter einstellen. Mit Oren Roman als vorläufig aushelfendem Kantor haben wir auch gute Erfahrungen.

Wer eine Kabbalat Schabbat in der Hallenser Synagogengemeinde erlebt, wird erstaunt darüber sein, wie viele Interessenten aus sehr unterschiedlichen Altersgruppen den Weg in die Trothaer Straße finden. Gibt es Pläne, ein eigenes Jugendzentrum aufzubauen?

Ja, die Jugendgruppe hat sich formiert. Im Moment richten wir für sie geeignete Räumlichkeiten ein. Unsere Jungen machen uns sehr viel Freude. Sie besuchen fleißig die Sonntagsschule, helfen den älteren Menschen - kurz,: sie geben Hoffnung und Hinweis, dass unsere Gemeinde lebt und leben wird.

Gerüchte besagen, dass schon im Sommer diesen Jahres mit dem Ausbau eines Gemeindezentrums auf einem Grundstück in der Nähe der Saale begonnen werden sollte ...

An sich sollte schon im letzten Jahr begonnen werden. Doch leider wurde das von uns beantragte Baudarlehen von der Halleschen Filiale der Hypovereinsbank abgelehnt, nach nahezu einem Jahr Bearbeitungszeit. Nun wird die Synagogengemeinde auf einen großzügigen Spender zurückkommen müssen, der bereit ist, ein Gemeindezentrum mit Synagoge zu sponsern.

Wir zufrieden sind Sie grundsätzlich mit dem ehrenamtlichen Engagement der Gemeindemitglieder?

Ohne ein solches würde die Gemeinde gar nicht existieren.

Die Synagogengemeinde wird sich auch beim Israeltag am 4. Mai präsentieren. Was erwartet die Besucher am geplanten Stand im Stadtzentrum?

Wir werden profunde Informationen zum israelischen Staat und zur israelischen Gesellschaft anbieten. Und das soll dann mit jedem Jahr mehr werden.

Das Interview führte Axel Fritzsche

Quelle:
Jüdische Zeitung (Printausgabe) - Mai 2006

 

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